Gedichte sind cool! Und das sag nicht nur ich als alter Literaturfreak, sondern auch viele Tausend andere Menschen in meinem Alter. Habt ihr schon mal ein Video von einem Poetry Slam gesehen? Dichtung ist gerade total in – obwohl oder vielleicht gerade weil sie nicht immer leicht zu verstehen ist. Du willst besser mit Gedichten arbeiten können und vor Freunden mit deinen Interpretationen punkten? Dann klickt jetzt nicht weg! Denn in diesem Artikel stelle ich euch die Taktik vor, mit der Literaturwissenschaftler ihre Gedichte interpretieren! Und es ist gar nicht so kompliziert, wie man es vielleicht erwarten würde!
1. Sprachliche und sachliche Klärung
Bei einer Gedichtanalyse solltest du zuerst sicherstellen, dass du das Gedicht auch verstehst. Gibt es Fremdwörter? Worte, die in diesem Kontext keinen Sinn ergeben, weil sie vor ein paar hundert Jahren anders verwendet wurden? Uralte Worte, die du noch nie gehört hast? Dann schlag das gleich zu Beginn nach!
Du verstehst alle Worte? Dann lies dir das Gedicht nochmal aufmerksam durch. Gibt es Anspielungen, die dir ins Auge stechen? Kommt dir etwas bekannt vor, so als hättest du das schon mal irgendwo so ähnlich gelesen? Oder schreibt der oder die Autorin sogar: „wie bei Goethe geschrieben stand“? Markiere dir das! Wenn du Zeit hast, recherchier am besten, worauf genau sich der oder die AutorIn denn da bezieht.
2. Textinterne Pragmatik
Jetzt geht’s ans Eingemachte! Und zwar kommt nun der erste richte Interpretationsschritt der Gedichtanalyse. Schritt 1 war nur Vorarbeit. Jetzt darfst du die Kommunikationssituation analysieren. Wer spricht also wen an? Und wo? Und worüber? Und wann? Um diese Fragen beantworten zu können, gibt es einige Punkte, die du beachten solltest.
- Achte auf die Pronomina! Steht da „mein Hemd“, „deine Wut“ oder „sein Haus“?
- Schau dir die Verbformen an! Besonders Imperative sind wichtig! („Schau!“)
- Gibt es Verben der Wahrnehmung? Wird etwas gesehen, gerochen oder berührt?
- Findest du Verben, die auf emotionale und kognitive Prozesse verweisen? Denkt jemand oder überlegt oder glaubt an etwas?
- Beachte die Zeit: Spricht der Sprecher über die Gegenwart? Oder doch über die Vergangenheit? Oder vielleicht sogar über die Zukunft?
All das gibt hilft dir, die Kommunikationssituation zu entschlüsseln – und das ist unerlässlich, wenn du eine gelungene Interpretation schreiben willst.
Du weißt jetzt, wer wo mit wem spricht? Dann kommen wir zu einer weitere W-Frage: Wie? Um diese Frage zu beantworten, gibt es 6 Funktionen, von denen immer mindestens eine zutrifft. So kannst du die Kommunikationssituation noch besser charakterisieren.
- Die Emotive Funktion: Diese Funktion ist auf den Sprecher gerichtet. Wenn da steht „Ich fühle mich schlecht“, spricht der Sprecher über sich selbst.
- Die Phatische Funktion: Durch die Aussage wird ein Kontakt hergestellt. Zum Beispiel kann ein Professor zu Beginn der Stunde fragen: „Können Sie mich alle hören?“, um die Studenten auf sich aufmerksam zu machen.
- Die Referentielle Funktion: Manchmal will man etwas über den Kontext aussagen. Zum Beispiel könnte es in einem Werbespot heißen: „Das ist vor allem bei Schlechtwetter nützlich!“
- Die Konative Funktion: Der Sprecher richtet sich an den Empfänger und sagt vielleicht: „Verstehst du das denn nicht?“
- Die Metalinguistische Funktion: Hier richtet sich die Botschaft auf den sogenannten Code: „Das gehört sich so!“
- Die Poetische Funktion: Manchmal bezieht sich der Text oder die Aussage auf sich selbst.
Es kann übrigens sein, dass sich eine Aussage nicht klar zu einer Funktion zuordnen lässt. Oft treten die Funktionen als Mischungen auf.
3. Semantik
Im dritten Interpretationsschritt richtest du deinen Blick auf Isotopen und ihre Beziehungen untereinander und auf Tropen.
Isotopien sind die Wiederholung von Bedeutungsaspekten. Sie schaffen Kohärenz und helfen dir, den Inhalt eines Gedichts besser zu verstehen. Was das konkret heißt? Wenn es mindestens 3 Begriffe gibt, die inhaltlich miteinander zusammenhängen, dann hast du eine Isotopie! Zum Beispiel könnten im Gedicht die Worte „Auge, Brille, unscharf“ vorkommen. Dann geht es wohl um das Thema „schlechtes Sehen“.
Tropen sind rhetorische Stilmittel, die die Semantik, also den Inhalt eines Textes ändern. Welche es da so gibt? Hier eine kleine Liste mit ein paar Beispielen!
- Ironie
- Metonymie: Der Kellner fragt dich: „Noch ein Gläschen?“ Wenn du Ja sagst, wird er dir kein leeres Glas hinstellen, sondern ein Getränk, das er in ein Glas gefüllt hat. Du verbindest es mit seinem Inhalt.
- Synekdoche: Ähnlich wie eine Metonymie. Ein Teil steht fürs Ganze, ein Segel am Horizont zum Beispiel für ein Schiff.
- Metapher: Ein Bild, das für etwas anderes steht.
- Vergleich: Alles mit einem „wie“. Hell wie die Sonne. Dunkel wie die Nacht.
- Neologismen: Wortneuschöpfungen
- Homonym: Ein Wort mit mehreren Bedeutungen.
4. Syntax und Form
Im vierten Interpretationsschritt der Gedichtanalyse beschäftigst du dich mit dem Aussehen und dem Satzbau des Gedichts. Wo endet zum Beispiel der Satz in einem Gedicht? Endet er mit der Verszeile (Zeilenstil), davor (Zäsur) oder erst in der nächsten Verszeile (Enjambement)? Gibt es optische Auffälligkeiten wie Fettgedrucktes?
Wichtig sind hier auch die Metrik und die Figuren. Figuren sind rhetorische Stilmittel, die die Syntax, also den Satzbau, eines Gedichts betreffen.
Das Metrum ist ein abstraktes und regelmäßiges Muster von markierten und unmarkierten Silben. Das heißt: Wie viele Silben gibt es in einer Verszeile und welche davon werden betont, wenn du einen Satz ganz normal vorliest? Es gibt meistens ein Muster und das hat natürlich wieder einen eigenen Namen. Der Choriambus hat zum Beispiel in jeder Zeile 4 Silben, von denen die erste und die letzte betont werden. Aber hier wieder eine kleine Liste von allem, das sonst noch mit Syntax und Form zusammenhängt, wieder ungeordnet und ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Jambus: Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben.
- Akatalaktisch: Eine Zeile mit Jambus endet mit einer unbetonten Silbe.
- Hyperkatalaktisch: Es gibt eine Silbe zu viel!
- Katalaktisch: Es gibt eine Silbe zu wenig.
- Blankvers: ein fünfhebiger Jambus ohne Reim. Also ein Vers fünfmaliger Wiederholung von betont und unbetonten Silben.
- Vierzeiler/Quartett: Eine Strophe mit vier Verszeile und einem der folgenden Reimschemata: abab aaaa aabb abba. A reimt sich auf A und B reimt sich auf B.
- Couplet: Eine Strophe aus zwei gereimten Zeilen.
- Terzett: 3 gereimte Verse
- Triplett: Eine Sonderform des Terzetts, bei der sich alle Verse reimen.
- Terzine: Der mittlere Reim eines Terzetts reimt sich mit den zwei äußeren der nächsten Strophe.
- Haiku: Ein Gedicht aus drei Zeilen, bei der in der ersten 5, in der zweiten 7 und in der dritten Verszeile 5 Silben sind.
- Limerick: Ein Gedicht mit einem aabba-Reim, das ein besonderes Metrum hat.
- Sonett: Ein Gedicht mit 14 gereimten Versen, die Silbenzahl ist nicht vorgeschrieben. Oft gibt es eine Volta, also eine inhaltliche Wendung dort, wo sich die Zeilenanzahl der Strophen verändert.
- Palindrom: Ein Wort, das von vorn und hinten gleich lesbar ist.
- Binnenreime: Ein Reim innerhalb einer Verszeile.
- Alliteration: Mehrere Worte hintereinander beginnen mit dem gleichen Buchstaben.
- Anapher: Mindestens zwei Sätze beginnen gleich.
5. Textinterne Pragmatik
Im fünften und letzten Schritt der Analyse bzw. Gedichtanalyse solltest du dich dem historischen Kontext des Gedichts widmen. Auf welche Ereignisse in Weltgeschehen könnte das Gedicht also zum Beispiel verweisen? Welche Ansichten und Meinungen werden hier vertreten? Hier ist es wichtig, dass du dich ein bisschen über die historischen Ereignisse zur Entstehungszeit informierst. Gab es zum Beispiel einen Krieg oder eine große Katastrophe?
Und ganz zum Schluss noch etwas Wichtiges, falls du und ein/e FreundIn mal ganz andere Interpretationen findet: Bei Interpretationen ist es generell so, dass sie bei jedem etwas anders ausfällt. Wichtig ist nur, dass deine Interpretation Sinn macht und alles im Text belegbar ist.